Rezension | Jene Tage, die verschwinden
Titel: Jene Tage, die verschwinden | Autor*in: Thimotee Le Boucher | Übersetzer*in: Christiane Sixtus | Illustrator*in: Thimotee Le Boucher | Verlag: Cross Cult | Erscheinungsdatum: 17.04.2023 | Seitenzahl: 192
Eine Verfolgungsjagd gegen das Vergessen
Was würdet ihr tun, wenn ihr plötzlich feststellen würdet, dass ihr nur noch an jedem zweiten Tag lebt? So ergeht es Lubin Maréchal, einem jungen Mann in seinen Zwanzigern, der jeden Morgen aufwacht, ohne sich daran zu erinnern, dass zuvor ein ganzer Tag vergangen ist. Er findet heraus, dass während dieser Abwesenheiten eine andere Persönlichkeit von seinem Körper Besitz zu ergreifen scheint – ein anderes Ich mit einem ganz anderen Charakter, das ein Leben führt, welches nichts mit seinem eigenen zu tun hat. Um diese Koexistenz körperlich und zeitlich zu organisieren, setzt sich Lubin in den Kopf, mit diesem „Anderen“ über eine Kamera zu kommunizieren. Doch nach und nach gewinnt dieses Alter Ego die Oberhand und nimmt Lubins Körper immer länger in Besitz, während dieser sich allmählich komplett in der Zeit verliert … Wer weiß, wie viele Tage er noch zu leben hat, bevor er völlig verschwindet?
Nebst der Präsentation einer absolut atemberaubenden Fantasy-Story wirft Timothé Le Bouchers JENE TAGE, DIE VERSCHWINDEN sehr bedeutsame Fragen zur Identität, zur Dualität des Seins und zum Verhältnis zwischen Körper und Geist auf. Die ganze Zeit über müssen wir uns fragen, ob Lubin wirklich verschwindet – oder vielleicht doch eher an Schizophrenie leidet? Was wäre, wenn die eine Persönlichkeit der anderen auf den Fersen ist, weil ganz einfach der erwachsene Mann nach und nach das Kind in sich vertreibt?
Vielen lieben Dank an den Verlag für die Zusendung des Rezensionsexemplars.
Ein genauerer Blick auf diesen Titel und ich wusste: der muss unbedingt gelesen werden!
Was ruhig beginnt…
Lubin ist in der besten Zeit seines Lebens, genießt die Zeit mit seinen Freund*innen und der Akrobatik und auch die kleine Familie die er hat, sieht er zwar nicht allzu oft, doch die Liebe ist wirklich groß.
So ist er gerade bei einem seiner Auftritte, als ein Unglück passiert und er auf den Kopf stürzt – was im ersten Moment für alle Zuschauenden schlimm aussah, wird gleich von ihm abgewunken und alle Sorgen über Bord geworfen, bis er am nächsten Tag auf einmal darüber stolpert, dass bereits…der übernächste Tag ist! Vielleicht eine Gehirnerschütterung und den letzten Tag komplett durchgeschlafen?
Doch dieses Phänomen wiederholt sich und entpuppt sich nicht als große Lücken im Gedächtnis, sondern zeigt auf, dass in Lubin zwei Persönlichkeiten leben, die von nun an im Wechsel je für einen Tag den Körper und damit auch das Leben einnehmen.
Das Ganze liest sich bei mir erst einmal ziemlich abgedreht, doch Thimotee Le Boucher hat ein außerordentliches Talent für die Stimmung. Natürlich ist das alles äußerst bedenklich und merkwürdig, doch Lubin nimmt es als das hin, was es ist und auch sein engerer Kreis nimmt es nach den ersten „Beweisen“ hin. Lubin versucht eine Koexistenz anzustreben und so entsteht ein Videoaustausch zwischen den beiden Persönlichkeiten, sodass auch die Leser*innen ein Bild davon bekommen, was für unterschiedliche Charaktere sich hier den Körper teilen. Am Anfang scheint das Ganze sogar mehr oder weniger auch gut zu funktionieren, bis Lubin immer mehr die Kontrolle verliert und „der andere“ ihn nach und nach verdrängt. Auf einmal ist Lubin länger als ein Tag nicht anwesend und die Zeitspannen vergrößern sich immer mehr.
Absolut einnehmend
Diese Vorstellung ist mehr als nur erschreckend und Künstler und Autor schafft es hervorragend all das einzufangen. Ich war selbst so gefangen in der Geschichte und habe so sehr mit Lubin mitgefiebert, dass ich den Comic gar nicht mehr aus der Hand legen konnte. Eine Situation, in der der junge Mann absolut machtlos zu sein scheint. Was tut man, wenn jemand anderes einfach das eigene Leben übernimmt?
Trotz des angekündigten Genres Mystery und Fantasy lesen sich diese Anteile in meinen Augen eher subtil und in Kombination mit der an sich ruhigen Stimmung entsteht ein beeindruckendes und emotionales Kopfkino.
So wirklich sicher kann man sich nicht sein, was jetzt nun wirklich dahinter steckt – sind es zwei Persönlichkeiten durch eine Persönlichkeitsstörung, z.B. durch ein Trauma? Oder geht es weit darüber hinaus? Wir begleiten Lubin hier über viele, viele Jahre und die Entwicklung, die er, aber auch viele andere Charaktere durchmachen hat mich wirklich erstaunt. Die innige Bindung, der Umgang mit der Situation – beides Aspekte, die einen selbst zum Grübeln und Reflektieren aufforden.
Definitiv ein grandioser Comic, der mich in ganzer Linie überraschen und überzeugen konnte.
Eine Geschichte über einen jungen Mann, der sich immer mehr selbst verliert. Unglaublich atmosphärisch und fesselnd geschrieben, sodass ich mich gar nicht mehr vom Comic lösen konnte und wollte – nachhaltig einnehmend auf jeden Fall. Für Leser*innen von subtilen Mystery Elementen eine ganz große Leseempfehlung!
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