Rezension | Der Fremde von Caitlin Wahrer

Rezension | Der Fremde von Caitlin Wahrer

Titel: Der Fremde | Originaltitel: The Damage | Autor*in: Caitlin Wahrer | Übersetzer*in: Melike Karamustafa | Verlag: Heyne | Erscheinungsdatum: 14.06.2022 | Seitenzahl: 464 (Printausgabe)

„Eine der aufregendsten Neuerscheinungen dieser Saison.“ New York Times

Als ihr Schwager Nick nach einem brutalen sexuellen Übergriff im Krankenhaus liegt, ist Anwältin Julia fassungslos. Der Zwanzigjährige hat mit physischen Verletzungen und einem massiven Trauma zu kämpfen – und Julias Mann Tony, der sein Leben lang wie ein Vater für Nick gesorgt hat, wird von Wut und Verzweiflung aufgefressen. Der Verdächtige wird schnell gefunden, doch er bestreitet Nicks Aussage. Gleichzeitig verschlechtert sich Nicks psychischer Zustand dramatisch. Julia bemüht sich, ihre Familie zusammen- und den ermittelnden Polizisten Detective Rice auf Abstand zu halten. Doch Tonys Rachegefühle geraten außer Kontrolle, er macht Julia immer mehr Angst. Und schließlich muss sie sich fragen, wie weit Tony gehen wird, um seine Familie zu beschützen …

Vielen Dank an den Verlag für die Zusendung des Rezensionsexemplars!

TRIGGERWARNUNG: Sexualisierte Gewalt, Mental Health

Auch hier haben mich mal wieder die ersten Leser*innen Stimmen neugierig gemacht, sodass ich mir gerne selbst ein Bild von der Geschichte machen wollte.

Kein Thriller, aber spannend

Es ist ja nicht so, dass das Buch als Thriller gekennzeichnet wäre, aber irgendwie habe ich dennoch meine Schlüsse zu diesem Genre gezogen und einigen anderen ging es vorab auch so. Also nochmal vorsichtshalber: hierbei handelt es sich um KEINEN Thriller, sondern viel eher ein Familiendrama, das aber inhaltlich und vom Erzählstil durchaus sehr spannend aufgebaut ist. Nick geht feiern und hofft eigentlich darauf seinen Schwarm zu treffen, der ihn allerdings versetzt. Umso mehr freut er sich im ersten Moment über seine neue Bekanntschaft, die dann allerdings alles verändert. Nick wird Opfer von einem brutalen sexuellen Übergriff. Der Täter ist zwar schnell identifiziert, doch dieser leugnet das Geschehen, wodurch sie die Verhandlung zieht und immer mehr aufwühlt. Aufgefangen wird er unter anderem von seinem großen Bruder Tony und dessen Frau Julia, die zwar beide komplett andere Wege einschlagen, sich aber darüber einig sind alles für ihn tun zu wollen. Gerade die erste Hälfte des Buches hat mich gar nicht mehr losgelassen. Es klingt ja immer ein bisschen herzlos und unempathisch bei solch einer Thematik von einer spannenden Unterhaltung zu reden, aber ich hoffe ihr wisst, wie ich es meine. Caitlin Wahrer ist für mein Empfinden sehr einfühlsam, wenn auch sehr ehrlich an die Thematik herangetreten und zeigt das Gesamtbild auf, das einige so nicht vor Augen haben. Es ist hier eine sehr starke psychologische Eben, die angesprochen wird und die auch bei mir direkt aufgegangen ist. Auch, wenn ich die Meinung vertrete, dass Frauen gesellschaftlich die meiste sexualisierte Gewalt erleiden müssen, heißt es keinesfalls, dass diese nicht auch andere Menschen betrifft oder in irgendeiner Art und Weise weniger schlimm wäre. Gerade Nicks Fall zeigt einmal mehr auf, mit welchen Vorurteilen schwule Männer kämpfen müssen, als wenn diese traumatische Erfahrung nicht schon schlimm genug wäre. So werden gesellschaftliche Gedanken, wie „Ein Mann müsste sich wehren können“ und auch auch die Übersexualisierung von queeren Männern aufgegriffen, was ich unglaublich wichtig finde.

Zeitgenössisch & gesellschaftskritisch

Auch die Verhandlung und alles drumherum wird hier immer wieder aufgegriffen, der Kampf, den Betroffene durchlaufen müssen und der oftmals von außen unterschätzt wird. Doch besonders im Fokus steht hier die Familie, Tony, der als großer Bruder das Gefühl hat versagt und seinen kleinen Bruder nicht beschützt zu haben – was übrigens auch nochmal richtig gut aufgegriffen und aufgelöst wird. Und Julia, die zwar auch emotional betroffen ist, aber gerade durch ihre Juralaufbahn versucht rationaler und pragmatischer an die Situation heranzugehen. Die Verschlechterung von Nicks Zustand und die Länge der Verhandlung bringen die Gemüter allesamt durcheinander und sorgen für eine immer explosivere Stimmung. Außerdem gibt es noch Detective Rice, der in diesem Fall ermittelt und versucht Nick Gerechtigkeit zukommen zu lassen – auf der einen Seite verliert er immer mehr die Grenze zwischen Beruf und Anteilnahme gegenüber der Familie, auf der anderen weiß er aber auch, was sein Job bedeutet. Die Geschichte ist in den vier unterschiedlichen Perspektiven getrennt erzählt, zusätzlich in zwei Zeitebenen – vom Vorfall und den weiteren Verlauf und dann einem kleinen Sprung in die Vergangenheit, der das Ende der Geschichte offenbart. Hier muss ich wirklich sagen, dass auch, wenn nach der ersten Hälfte ein bisschen Länge in die Geschichte gekommen ist, es danach wieder ordentlich aufgeholt wurde und ich überrascht werden konnte. Alles in allem hat mich die Geschichte tief berührt, sehr beschäftigt und zeitgleich wirklich gut unterhalten. Die Autorin greift viele gesellschaftskritische Themen auf und bringt sie jeweils in den Situationen mit ein, sodass einem auch eigene Vorurteile dadurch ein bisschen klarer werden.

Mit Der Fremde hat mich Caitlin Wahrer nicht nur überrascht, sondern auch tief berührt. Was ich ursprünglicher eher für einen Thriller hielt, hat sich als zeitgenössischer, gesellschaftskritischer und spannender Roman entpuppt, den ich gar nicht mehr aus der Hand legen konnte, weil er mir so tief unter die Haut gegangen ist. Die Themen wie sexualisierte Gewalt sind alles andere als leicht, doch in meinen Augen sehr ehrlich und empathisch aufgegriffen.

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